Casus

Vertrauen als Behandlungs-Voraussetzung

Die Empathie einer Fachperson im Behandlungsprozess kann über Erfolg oder Misserfolg einer Behandlung entscheiden. Grundlage hierfür ist die Vertrauensbildung zwischen Fachperson und Patient.

 

Störfaktoren

STÖRFAKTOREN:

  1. Vorgefasste Meinung: der Patient schildert ein Symptom, der Arzt weiss sofort, das ist harmlos, z.B. Stechen in der linken Brust. Der Arzt schaltet auf Modus „Bagatelle“ und hört nicht weiter zu. In der Regel fühlt sich der Patient nicht ernst genommen, im schlimmsten Fall verpasst der Arzt eine wichtige Diagnose. Überlastete Fachpersonen  sind eine Gefahr für die Gesundheit der Patienten.
  2. Globalbudgets: Im Setting des Globalbudgets ohne Kickbacks (Grundversorgung, RSS-Index) und Globalbudgets mit Kickbacks (Managed Care Modelle) muss der Arzt aus Selbstschutz vor die Existenz bedrohenden Regressforderungen (Rückzahlungen an die Versicherer) möglichst wenig Kosten verursachen (bei Managed Care Modellen kriegt er dafür Geld). Er ist dabei der Meinung, dass er für die Gesamtkosten im Gesundheitswesen mit verantwortlich ist und sucht sich selektiv jene Patienten aus, wo er meint, im Sinne der Allgemeinheit am besten Leistungen verweigern zu können.
  3. Smarter Medicine: Smart bedeutet in diesem Kontext, weniger Medizin ist besser. Sie will vom Arzt primär eine abwartende Haltung, was nicht falsch sein muss. Smarter Medicine ist aber überaus anspruchsvoll, denn sie müsste zwingend das laufende Überdenken der eigenen Haltung und die Verlaufskontrolle zur Überprüfung beinhalten, was dann wieder Kostenfolgen impliziert. Korrekte „smart medicine“ ist also teuer. Doch das ist nicht das Ziel der Smarter Medicine Kampagne in der Schweiz, denn diese ist als Rationierungsinstrument gedacht (http://smartermedicine.ch).

AUSWIRKUNGEN

Diese Störfaktoren werden von den Patienten verspürt. Das Vertrauen (oder auch die gegenseitige Sympathie) sinkt, die angeordneten Massnahmen erhalten dadurch einen Nocebo-Effekt.

BEISPIEL

Der Patient ängstigt sich, weil es ihn in der Brust sticht. Er raucht 20 Zigaretten am Tag seit 30 Jahren, ist beruflich gestresst wegen Mobbing, der Arbeitgeber hat eine Kündigung ausgesprochen und die Ehefrau will die Scheidung, da er zu wenig Geld verdiene. Er ist 55 Jahre alt und übergewichtig mit einem Cholesterin von 8.5 mmol/l und einem Blutdruck von 165/90 mm Hg. Beim Treppensteigen verspürt er eine Atemnot. Der Patient fordert kategorisch weitere Abklärungen bei einem Spezialisten (Herz oder Lunge?), er ist massiv verunsichert und hat Angst, er weiss nicht, wie er die Zukunft bewältigen kann und leidet deswegen auch zunehmend an Schlafstörungen. Da er im Hausarztmodell versichert ist, braucht er die Überweisung des Hausarztes, sonst zahlt die Versicherung die Kosten beim Spezialisten nicht.

Der konsultierte Arzt hat genug von rumänischen Patienten. Er hat selber erfahren, dass diese freche Forderungen stellen und erklärt ihm kurz angebunden, dass er gesund sei, das Ruhe-EKG sei auch normal, er solle sich mal abregen, dann würde der Blutdruck schon wieder normal und das Cholesterin soll man bei Gesunden eh nicht behandeln, weil zu teuer. Er denkt bei sich, wenn ich jetzt  noch ein Röntgen mache, kommt sicher noch eine Bagatelle heraus und der Patient wäre dann noch mehr verunsichert, was wiederum Kostenfolgen hätte. Der Patient erhält eine Packung Schmerzmittel und wird verabschiedet, eine Nachkontrolle wird als unnötig dargestellt. Gleichzeitig verspürt der Arzt einen Lustgewinn. Er war smart, kostenbewusst und sieht sich in seiner diagnostischen Meinung bestätigt.

Der Patient fühlt sich nicht Ernst genommen und entwickelt gegenüber dem Arzt Antipathien. Gleichzeitig ist er ihm ausgeliefert wegen dem Hausarztmodell (Managed Care mit Budgetverantwortung). Da die Schmerzen nicht verschwinden, bleibt ihm nur der Gang auf die Notfallstation. Dort wird ihm ebenfalls erklärt, dass das Stechen harmlos sei, es wird aber wegen den Risikofaktoren für Herzschlag und der leichten Atemnot (Anstrengungsdyspnoe 2°) empfohlen, eine kardiologische Abklärung durchführen zu lassen. Dieser Anordnung mag sich der Hausarzt nicht entziehen, es erfolgt eine Überweisung.

Der Kardiologe findet im Belastungs-EKG nichts auffälliges, es attestiert einen gewissen Trainingsmangel, sonst sei aber alles in Ordnung, der Blutdruck im Grenzbereich, das Cholesterin wurde gar nicht angeschaut, weil der Hausarzt nicht will, dass bei Gesunden das Cholesterin behandelt wird (es ist ja wohl was dran an der Cholesterinlüge?) und der Kardiologe würde zwar das Cholesterin behandeln (mit einem Statin), hat aber Angst, dass ihm dann der Hausarzt keine Patienten mehr überweist (wenn die sich zusammentun, müsste er wohl die Praxis wegen zu wenig Überweisungen schliessen), denn der Hausarzt hat ihm schon mehrmals erklärt, die Cholesterinbehandlung sei seine Sache.

Der Patient ist immer noch unzufrieden. Er spürt, dass etwas nicht stimmt, die stechenden Schmerzen werden häufiger und intensiver. Er wechselt den Hausarzt, dieser überweist ihn auf dessen Wunsch  an einen weiteren Kardiologen. Dieser schaut sich zunächst mal die Halsschlagader an und findet eine fortgeschrittene Atherosklerose (Arterienalter 92 Jahre).

 

Er führt deshalb trotz normalem Ruhe-EKG ein Ultraschall des Herzens durch, welche einen kleinen Herzinfarkt der Unterwand des Herzmuskels zeigt. Unter Belastung kommt es zu einem zögerlichen Blutdruckanstieg ohne EKG-Veränderungen, dabei zeigt sich in der Echokardiographie, dass der Herzmuskel global schlecht arbeitet. Der Patient erhält einen Lipidsenker hochdosiert (Statin), einen Blutverdünner (Aspirin) und einen Blutdrucksenker (Amlodipin). Für den nächsten Morgen wird ein Herzkatheter vereinbart, welcher zeigt, dass zwei von drei Hauptgefässe des Herzens von drohenden Verschlüssen bedroht sind, eines ist bereits verschlossen, 7 Tage später erfolgt eine Bypass-Operation. Im weiteren Verlauf erfolgt eine Herzrehabilitation, die adjustierte Behandlung der kardiovaskulären Risikofaktoren sowie eine psychiatrische Behandlung wegen Depression. Das Rauchen hat der Patient auf Anraten des zweiten Kardiologen bereits am ersten Untersuchungstag sein lassen können. Das Arterienalter hat ihm die Augen geöffnet und ihn massgeblich motiviert, zumal ihm mitgeteilt wurde, dass diese Ablagerungen mit Nikotinstop und Behandlung der weiteren Risikofaktoren zurückgehen (sich verjüngen).

SCHLUSSFOLGERUNGEN

Einzig durch das resiliente Beharren des Patienten konnte rechtzeitig eine lebensbedrohliche koronare Herzkrankheit erkannt und behandelt werden. Der Nocebo-Effekt wurde durch den ersten Hausarzt ausgelöst, welcher den Stress beim Patienten nur noch mehr aufbaute und ihn damit in seiner Gesundheit zusätzlich gefährdete. Es kann für Patienten durchaus nicht ungefährlich sein, wenn der Hausarzt den Konsultationsgrund als Störfaktor wahrnimmt und gegenüber den Patienten deswegen Aggressionen aufbaut, welche er dann damit entschuldigt, dass der Patient fordernd und frech auftreten würde, dabei hatte er nur eine – berechtige – Angst. Ein empathischer Arzt erkennt problemlos die Gründe für vermeintlich aggressives Auftreten seitens der Patienten: es sind häufig Depression und Ängste. Dies zu thematisieren und vertieft abzuklären und zu behandeln, schafft Vertrauen und legt den Grundstein für eine erfolgreiche medizinische Behandlung. Die Aussage, „es ist nichts“ ist zwar bei den Aerzten in dem Masse beliebt, wie sie bei den Patienten unbeliebt ist. Der intellektuelle Aufwand beim Arzt ist dabei auch weitgehend minimal. Da kann man sich als Patient schon mal die Frage stellen, warum man überhaupt den Hausarzt aufgesucht hat.

KOMMENTAR

Das Ausmass der geschilderten Problematik ist zu wenig erforscht. Eine internationale Studie der Universität Genf unter Leitung der Aerztin und Ethikerin Samia Hurst zeigte, dass besonders in der Schweiz häufiger Leistungen aus Angst, das Gesundheitswesen sei nicht finanzierbar, rationiert werden (Literatur). Der Patient kann sich vor dieser Rationierung nur durch ultimative Forderung nach weiterer Abklärung schützen. Das Managed-Care Modell mit Budgetverantwortung liefert die Patienten dem Gutdünken der Hausärzte fast vollständig aus (Ausweg: Notfallstation). Dies mag mit ein Grund sein, weswegen die Notfallstationen zunehmend überlastet sind.

Globalbudgets sind der Nährboden für Burnout bei den Hausärzten. Früher ging man diese Probleme in Balintgruppen an….

Vorgefasste Meinungen und smarter medicine können dabei die verkürzte Medizin (shortened medicine) rechtfertigen helfen. Evidenz-basiert ist diese Interaktion zwischen Arzt und Patient nicht. Die notwendigen Behandlungskosten werden erhöht, indem sie verschoben werden.

Entsprechende Versorgungs-Forschung wäre dringend angezeigt.